Vom Identifikations- zum Differenzsymbol

Die Farbe als gesellschaftliches Kommunikationssystem und Ausdruck sozialer Statuslagen im 20. und 21. Jahrhundert

In demokratisch verfassten, massenmedial vermittelten und globalisierten Konsumgesellschaften wirkt Farbe vorrangig als ein Symbolsystem neuer gesellschaftlicher Distinktionspraktiken auf der Basis instabiler Differenz-Markierungen, die oft nur von kurzer Geltungsdauer sind. Gleichwohl bringt der soziale Gebrauch von Farbe in der Gegenwartsgesellschaft nach wie vor die sozialen Statuslagen und programmatischen Leitideen ihrer Träger, Nutzer und Sympathisanten zum Ausdruck, ebenso wie das für institutionelle Zusammenhänge von Sportvereinen bis zu internationalen Organisationen gilt. Jedoch kann sich das nicht mehr auf einen sozusagen ontologischen und internalisierten Kanon einer "sozialen Farbenlehre" in der Gesellschaft stützen. Stattdessen haben sich innovative gesellschaftliche Farbsetzungen gegenüber den konkurrierenden "Farbspielen" von Marketing und Werbung wie auch gegenüber der farblichen Präsenz neuartiger Technologien zu behaupten. weiterlesen

Farbe als Ausdrucksträger von Leitideen

Gegenüber ständischen Gesellschaften mit ihren konsistenten Statusordnungen, die auch in Kleidervorschriften und Farbzuordnungen als sozialen Positionierungssymbolen ihren Ausdruck fanden, ist die Bedeutung von Farbe als Ausdrucksträger gesellschaftlicher Leitideen in modernen Gesellschaften unabgeschlossener, vielfältiger und durch einen permanenten Wandel charakterisiert. Im kultursoziologischen Teilprojekt wird deshalb davon ausgegangen, dass Farbe im sozialen Gebrauch des 20. und 21. Jahrhunderts ihre Funktion von einem substanziellen Identitätssymbol zu einem identifikationstiftenden (und individuelle Identitäten begründen sollenden) Symbolsystem gewandelt hat. Gemessen an den ständischen Farbregularien, z. B. der mittelalterlichen Zünfte oder der militärisch gestützten Uniformkulturen, erscheinen die "Farbordnungen" im Rahmen pluralistischer und konsumistischer Gesellschaften mit ganz neuen Bedeutungszuschreibungen verbunden zu sein.

Die geänderten Voraussetzungen einer gesellschaftlichen Semantik der Farbe werden im Teilprojekt an den Farbprogrammen ausgewählter Innovationsgruppen sowie Protestgruppen des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht, um die Annahme tiefgreifender Funktionswandlungen im Rahmen der Pluralisierungstendenzen der Moderne historisch deutlicher fassen zu können. Insbesondere politische und gegenkulturelle Gruppierungen – von der Gründung und Etablierung der "Grünen" über die Farbe der Revolutionen bis hin zu den Nuancierungen von "Schwarz" als Programmfarbe subkultureller Totalopposition wie als Habitusfarbe intellektueller und künstlerischer Trägergruppen – sollen dabei hinsichtlich ihrer eigenen Farbprogrammatik wie auch in Bezug auf deren Durchsetzung in einer "bunten Republik" mit konkurrierenden Farbsetzungen und farblichen Doppel- und Mehrfachkodierungen untersucht werden.

Sozialer Gebrauch und symbolischer Wandel

Im historischen Längsschnitt von eineinhalb Jahrhunderten soll einerseits die Karriere des sozialen Gebrauchs von Farben verfolgt werden, denen im Laufe des 20. Jahrhunderts ganz verschiedene soziale, politische und kulturelle Trägergruppen, Images und gesellschaftliche Programmatiken zugeordnet wurden und die sich im 21. Jahrhundert einer zunehmenden Farbvielfalt neuer sozialer Bewegungen zu behaupten haben. Andererseits sollen im Teilprojekt auch die Farbkonzeptionen gegenkultureller Protestgruppen untersucht werden. In allen diesen Fällen geht es auch um die kulturelle Diffusionierung und kommerzielle Übernahme solcher Farb- und Symbolsysteme, verbunden mit Änderungen des Habitus, der Mode, oder kultureller Persönlichkeits- und Rauminszenierungen und deren Wirkung, für den gesellschaftlichen Erfolg einer proklamierten Abweichung und Differenzhaltung.

Auf Grundlage dieser historischen und thematischen Hintergründe untersucht das Teilprojekt gesellschaftliche Farbsemantiken des 20. und 21. Jahrhunderts an konkreten exemplarischen Feldern. Das Teilprojekt trägt damit einerseits zum kontextuellen Verständnis unterschiedlichster Farbverwendungen im Verbundprojekt bei und bietet andererseits durch die Analyse von gesellschaftlichen Spannungsbeziehungen – etwa zwischen Distinktion und (Neo-)Uniformierung oder Ästhetik und Medien (unter Berücksichtigung des Wandels von Natur- und Chemiefarben bis hin zur neuartigen Präsenz virtueller Farbwelten) – Möglichkeiten interdisziplinärer Kooperation und thematischer Clusterung.